Was Sozialdemokratie im ländlichen Raum ausmacht

Am Wochenende feiert der Niddaer SPD-Ortsverein sein 100-jähriges Bestehen – in einer für die gesamte Partei stürmischen Zeit. Ein Gespräch mit Christine Jäger und Ute Kohlbecher.

NIDDA – Am Wochenende feiert der Niddaer SPD-Ortsverein sein 100-jähriges Bestehen – in einer für die gesamte Partei stürmischen Zeit, in der manche in Deutschland gar die Frage nach dem Ende der Sozialdemokratie aufwerfen. Der Kreis-Anzeiger hat mit einem langjährigen und einem jungen Mitglied über ihre Intentionen gesprochen, warum sie sich gerade für die SPD entschieden haben (siehe weiterführende Links). Die Vorsitzende Christine Jäger und Ute Kohlbecher, Mitglied des Niddaer Magistrats, erklären zudem, was Sozialdemokratie im ländlichen Raum in ihren Augen ausmacht – und wo sie in Zukunft die wichtigsten Themenfelder sehen.

„Ich bewundere, wie aus 18 eigenständigen Ortsteilen eine Großgemeinde gestaltet und wie die Infrastruktur aller Ortsteilen entwickelt und gleichzeitig Nidda als Mittelzentrum ausgebaut wurde“, sagt Christine Jäger. Die 51-Jährige ist 1984 in die SPD eingetreten. Sie ist Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, sitzt seit 1997 in der Stadtverordnetenversammlung und ist Fraktionsvorsitzende ihrer Partei im Wetterauer Kreistag, darüber hinaus seit 2007 stellvertretende Vorsitzende im SPD-Unterbezirk Wetterau. Die Erfolge der vergangenen 50 Jahre als Großgemeinde seien jedoch nicht das Ende, im Gegenteil. „Nach fast 50 Jahren Großgemeinde geht die Gemeinschaftsaufgabe weiter. Nur gemeinschaftlich sind wir stark und können was erreichen.“

Neben ihrem Engagement in der SPD ist Christine Jäger voll berufstätig als Assistenz der Geschäftsführung bei der Awo Hessen Süd. Das große Pensum und die hohe politische Verantwortung sieht sie dennoch nicht als Stress. „Sich ehrenamtlich für etwas einsetzen, an einer Sache zu arbeiten und ein gemeinsam Ziel erreichen, ist kein Stress, sondern motivierend.“ Ute Kohlbecher ist SPD-Mitglied seit 1985. Die 70-Jährige war in den mittlerweile 34 Jahren ihrer kommunalpolitischer Arbeit Ortsvorsteherin, Stadtverordnete und Fraktionsvorsitzende. Seit 2011 ist sie Magistratsmitglied. Sie setzt sich über rein kommunalpolitisches Engagement vor allem vielseitig in ihrem Heimatort Wallernhausen ein, zum Beispiel bei den Hilfsmaßnahmen nach dem Hochwasser 2014, im Arbeitskreis Nahwärme oder dem Verein „Lebendiges Wallernhausen“. Kommunalpolitik und Sozialraumarbeit, das seien Dinge, die man nicht trennen könne, findet sie. „Kommunalpolitik und Sozialraumarbeit müssen vernetzt arbeiten. Immer stellt sich die Frage: „Was haben wir, was wollen wir erhalten und wie wollen wir in zehn Jahren hier leben?“

Man müsse dann auch entscheiden, was man selbst in die Hand nehmen könne und wofür brauchen man die Unterstützung der Kommunalpolitik benötige. Neueinsteigern in Sachen Ortsenwicklung empfiehlt sie, sich gut zu vernetzen. Als Beispiel nennt sie die Dorfentwicklung von Wallernhausen. „Den Startschuss gab 1998 der Landeswettbewerb ‚Unser Dorf hat Zukunft‘. Da brachten sich sehr viele Bürger mit ihren individuellen Talenten ein, auch aus Ortsbeirat, Vereinen, Kirchengemeinde. Sie erlebten Anerkennung und Unterstützung ihrer Vorhaben. Davon profitieren wir noch heute. Unter-Widdersheim, Ober-Schmitten und Ulfa sind diesen Weg auch gegangen und haben gute Erfahrungen gemacht.“

Als zentrale und zukunftsträchtige Themen sehen beide die Sozial- und Gesundheitspolitik im ländlichen Raum. „Das und natürlich die Entwicklung des ländlichen Raumes sind meine politischen Interessengebiete. Wir dürfen nicht abgehängt werden vom Ballungsraum“, sagt Jäger.

Kohlbecher findet, man müsse vor allem in Nidda die gute Infrastruktur wertschätzen lernen, aber auch weiterentwickeln. „Die Solidarität unter den Stadtteilen ist wichtig. Aktuell geht es um die Abschaffung der Straßenbeiträge, um Klimaschutzkonzepte, um Zukunftsinvestitionen wie ein neues Hallenbad.“ Regional denken und handeln, sozial und gerecht mitgestalten, das hat für Ute Kohlbecher Priorität. „Die Dorfkerne dürfen nicht überaltern, bürgerschaftliches Engagement muss finanziell gefördert und unterstützt werden. Das haben wir mit dem Stadtteilbudget und jetzt mit dem Stadtteilinvest für Ortsbeiräte erreicht. Beispielsweise bei einer Nutzung der Bürgerhäuser für generationsübergreifende Projekte.“ Im Gegensatz zur 20-jährigen Natalie Maurer, die kurz vor der Europawahl in die SPD eingetreten ist (siehe weiterführende Links), ist Christine Jäger familiär tief in der SPD verwurzelt. Ihr Vater war lange für die Sozialdemokraten und in der Feuerwehr aktiv. Damit, findet die Vorsitzende, sei er ein Vorbild für sie gewesen. „Sicher wird man im Elternhaus geprägt und bekommt vorgelebt, dass man sich engagieren sollte, um etwas zu gestalten“, sagt sie. Kohlbecher nennt Willy Brandt und Elisabeth Selbert als Vorbilder. Wenn sie auf die Geschichte der SPD blickt, sieht sie vor allem die Erfolge für Frauen, die die Partei seit der Weimarer Zeit für sich verbuchen konnte. „Die SPD hat in ihrer Geschichte viel für Frauen erreicht, beim Frauenwahlrecht, beim Ehe- und Abtreibungsrecht, beim Mindestlohn, der überwiegend Frauen zugutekommt. Ich bin heute noch stolz auf die Haltung der Sozialdemokraten in der Weimarer Republik. Vorbildhaft finde ich die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, die für die Gleichstellung von Mann und Frau im Grundgesetz kämpfte. 1969 durfte ich bei einer Bundestagswahl erstmals wählen. Willy Brandt war da für mich erste Wahl und ein großes Vorbild“, sagt Kohlbecher. Die SPD profitierte seit ihrer Gründung 1890 von einem „Zubringer-Umfeld“, das bis weit ins Private reichte: die Konsumvereine, die Gewerkschaften, die Naturfreunde oder die Arbeiterwohlfahrt. Diese Gruppen haben an Bedeutung verloren oder sind fast ganz verschwunden. Trotzdem, findet Christine Jäger, hat die SPD noch Zukunftschancen. „Sicherlich hat sich die Gesellschaft verändert, momentan geht die SPD in eine schwierige Phase. Aber unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bleiben immer aktuell.“ Deshalb habe die SPD weiterhin eine Zukunft. „Das gilt ebenso die Arbeiterwohlfahrt, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. Eine Zukunft sehe ich auch für die Naturfreunde, denn das Bewusstsein für die Bedrohung der Natur, das Problem des Klimawandels wächst.“

Quelle: Kreis-Anzeiger